Traumsequenzen

Herr Paulsen sitzt am Ende einer langen Tafel und tranchiert fachgerecht eine armdicke Stange Lauch (Porree würde der Ostdeutsche in mir jetzt korrigieren), die auf einer Servierplatte neben einer offensichtlich zu trockenen Lende und exotischen Kartoffeln liegt. Zu seiner Linken sitzt seine Liebste, daneben noch jemand, den ich nicht kenne, und meine Wenigkeit. Gespannt schauen wir Herrn Paulsen auf die Finger, der konzentriert und mißtrauisch schneidet. Endlich läuft die perfekte Sauce auf die Platte, Herr Paulsen lacht erleichtert.

„Welch ein Glück, die Sauce ist gelungen, sonst bekämen wir Ärger mit…“

Lu!„, rufen wir alle wie aus einem Mund und lachen herzlich.

 

Das kommt davon, wenn man mit Paulsens Buch zu Bett geht und sich vorher noch durch diverse Rezepte und Foodblogs klickt. Man träumt solchen Kram.

2009

Ich schreibe dann auch mal einen, während ich im Büro heute nur Zeit absitze.

1. Zugenommen oder abgenommen?

Leider zugenommen, zu wenig bewegt eine Zeit lang, außerdem Medikamente. Immer noch zuviel, geringfügig unter meiner „Schallmauer“.

 

2. Haare länger oder kürzer?

Etwas länger, wieder kürzer, gerade wachsen sie wieder. Der Plan ist „lang“, gerade mal.

 

3. Kurzsichtiger oder weitsichtiger?

Alles wird schlechter, auch meine Augen. Erblasten mütterlicherseits. Das Adlerauge in unserer Familie ist mein Vater.

 

4. Mehr Kohle oder weniger?

Durch Gehaltsumstellung weniger. Ich konnte es mir nicht aussuchen.

 

5. Mehr ausgegeben oder weniger?

Wie immer mehr. Mehr für Bücher, mehr für bessere Lebensmittel, weil ich angefangen habe, bewusster zu kaufen und zu essen.

 

6. Mehr bewegt oder weniger?

Leider zu wenig, auch krankheitsbedingt. Aber ich war wenigstens einmal noch alleine in den Bergen unterwegs und am Strand sowieso.

 

7. Der hirnrissigste Plan?

Etwas zu wollen, von dem der Andere nicht zu überzeugen ist.

 

8. Die gefährlichste Unternehmung?

Mit Sommerschlappen Ende März bei 20 Grad in Freiburg losfahren, um dann im Höllental bei Schneeregen und 2 Grad ins Rutschen zu kommen.

 

9. Der beste Sex?

Vielleicht im nächsten Jahr.

 

10. Die teuerste Anschaffung?

Die beiden neuen Kameras, die 7D und die G11 von Canon.

 

11. Das leckerste Essen?

Sowieso alles, was mein Bruder kocht. Aber den Vogel hat er in diesem Jahr mit der Lammschulter abgeschossen. Butterzart, saulecker.

 

12. Das beeindruckendste Buch?

Es sind eigentlich zwei Bücher, die man auch nacheinander lesen sollte: Daniel Glattauer „Gut gegen Nordwind“ und „Alle sieben Wellen“. Beeindruckend. Ach, steht da ja schon…

 

13. Der ergreifendste Film?

Einmal „Oben“ in 3D (hach!), ergreifend fand ich auch den letzten Tatort „Altlasten“.

 

14. Die beste CD?

Ich kaufe schon länger keine CDs mehr, sondern lade ausschliesslich bei iTunes. Ich habe in diesem Jahr wieder viel Silly, Karat und City gehört, aber auch Neues von Snow Patrol. Und seit langem mal wieder ein uneingeschränkt empfehlenswertes Album der Pet Shop Boys.

 

15. Das schönste Konzert?

Tina Turner und die Pet Shop Boys im Juni im Berliner Tempodrom, weil ich mir diesen Besuch mitten in der Reha hart erkämpfen musste. Aber er war die Diskussionen wert und hat mir um so mehr Spass gemacht.

 

16. Die meiste Zeit verbracht mit …?

Krankheit, Depressionen, Verlusten, Grübeleien. Und Überlegungen und Entscheidungen, wie alles weitergehen soll.

 

17. Die schönste Zeit verbracht mit …?

Hägar, dem Fröhlichen. Die kleine Familie war im Sommer glücklicherweise sehr oft bei uns.

 

18. Vorherrschendes Gefühl 2009?

Schachfigur zu sein in einem strategischen Plan (Job), der einzige Mensch zu sein, dem das auffällt und nichts dagegen unternehmen zu können. Hilflosigkeit.

 

19. 2009 zum ersten Mal getan?

Psychopharmaka genommen. Fragen Sie nicht.

 

20. 2009 nach langer Zeit wieder getan?

Versucht, ein paar Ängste loszuwerden. Höhenangst ist ja auch irgendwie dämlich, wenn man auf Berge kraxeln will.

 

21. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?

Depression, Herzschmerz, Verluste geliebter Menschen.

 

22. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?

Dass er falsch liegt, dass er sich verrennt. Dass nicht nur seine Prioritäten zählen. Gescheitert.

 

23. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?

Kinderbücher für Hägar. Der Kleine ist ganz vernarrt ins Büchergucken.

 

24. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?

Das „Hawaiian Survival Paket“ von Katharina, am Anfang des Jahres.

 

25. 2009 war mit einem Wort …?

ausbaufähig.

Back on drugs. Über eine Stunde am Donnerstag mit der Ärztin Alternativen diskutiert und wieder verworfen. Zu langwierig, zu aufwendig, zu wenig Aussicht auf schnelle Besserung. Sie sieht mich immer nur alle zwei Wochen, aber sie meint, sie sieht jedes Mal eine deutliche Verschlechterung. Was mir schleichend auffällt, nimmt sie mit Wucht wahr. Und wenn ich mir überlege, wie ich mich fühle und wie der ganze Kram in der Firma gerade läuft ist es wirklich besser, ich bekomme das in den Griff, ohne mich für die allzu sehr angreifbar zu machen.

Der Doc, der das Rezept anschließend ausstellt, ist auch immer sehr rührig. Zuerst ist er flapsig, macht Späßchen, wenn ich dann erzähle, warum ich da bin, was ich will und wie es mir geht, wird er sehr ruhig, redet leise, erklärt, versteht. Das Rezept ist dann nie ein Problem.

Entgegen der Empfehlung werde ich drei Wochen lang die doppelte Dosis nehmen. Sind nur 20mg, aber ich brauche schnell ein hohes Level, um über die Runden zu kommen.

Bis jetzt gehts ganz gut. Ich „merke“ die Lässigkeit meist schon am ersten Tag, arbeite strukturiert, souverän. Mal sehen, wie es wird, wenn der Trubel wieder los geht und alle anderen Kollegen wieder da sind. Aber bis dahin bin ich „auf Level“ und habe vielleicht ein paar ruhige Tage hinter mir.

Zwölf Steine

Ölandsteine sind es, diese rundgeschliffenen, weißen Dinger, die man manchmal an der Ostsee findet. Steine, in die man wunderbar Muster, Figuren, Bilder und Buchstaben gravieren und dann gestalten kann.

Zwölf Steine habe ich mir mitgebracht, als sogenannte Sinnsteine. Jeder ist mit einem Wort versehen, das das Entsprechende geben soll: Kraft, Hoffnung, Geborgenheit, Vertrauen, Energie, Stille, Liebe, Besinnung, Freunde, Zeit, Ruhe, Zuversicht. Es sind alles Dinge, die ich wenig oder gar nicht habe im Moment und für die mir auch gerade die Energie fehlt, sie einzufordern und aufzusammeln.

Es fängt wieder an. Ich kann mir Dinge nicht merken, ich lese Texte und es bleibt doch nichts davon hängen im Kopf. Ich kann mich nicht konzentrieren, weder auf die Arbeit noch auf Freizeitangelegenheiten. Ich schreibe akribisch alles auf und wenn ich genau dieselben Dinge ein paar Tage später erneut tun muss, ist nichts vom vorherigen Ablauf im Kopf übrig. Ich schlafe nachts wie ein Stein, sechs..sieben Stunden lang, aber ausgeruht bin ich am Morgen nicht, sondern fühle mich erschlagen, als hätte ich die Nacht durchgemacht.

Das Experiment „bunte Vögelchen“ ist gescheitert. Man fühlt sich einfach fremdbestimmt unter Psychopharmaka; obwohl.. der Zustand jetzt, vor allem im beruflichen Umfeld, ist kein anderer. Und irgendwie muss das auch anders in den Griff zu bekommen sein, nicht mit Pillen, aber es dauert eben auch länger. Zeit, die ich nicht habe.

Mal sehen, was die Ärztin am Donnerstag dazu sagt. Die Sitzungen bestehen derzeit nur aus Heulerei. E-kel-haft.

Irgendetwas läuft in diesem Laden gerade so richtig verkehrt. Kollegen werden umgesetzt, Termine für Wechsel werden bekanntgegeben und dann stillschweigend nach vorn verlegt. ‚Entweder jetzt oder gar nicht‘, haben sie dem nicht gerade beliebten Kollegen gegenüber gesagt. Also geht er lieber jetzt in eine andere Abteilung, obwohl man ihn hier für anstehende Projekte braucht und schon fest eingeplant hatte.

Vor Monaten wurden Projekte und Entwicklungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt, aber bitte nicht für die Festangestellten, sondern nur für Externe. Selbst für die Externen war vieles keine Option. Also blieben sie lieber hier. Jetzt werden sie rumgeschoben wie Mühlesteine auf dem Brett und müssen doch in die nicht gewollten Bereiche gehen. Ein Kollege, den ich vor ein paar Tagen beim Kaffee traf, erzählte mir, ihm sei eröffnet worden, er solle sich darauf einstellen, ab Januar in eine andere Abteilung zu wechseln. Er hat widersprochen, weil man ihn nicht gefragt hatte. Kollegen, die vor ein paar Tagen zu uns ins Team kamen, werden wieder gehen müssen in 3-4 Monaten, ihre Kunden lassen sie hier. Unser großer Chef, dem ich den letzten Anschiss zu verdanken habe, teilt personelle Änderungen in den Teams und den Strukturen vor versammelter Abteilung mit und die Betroffenen sitzen da wie die Ölgötzen, weil sie nach Vorgesprächen mit einigen Andeutungen jetzt vor vollendete Tatsachen gestellt werden.

Zwei neue Beraterfuzzis sind dazugekommen; einer hat gar keine Ahnung, arbeitet aber schon zwei Jahre für die Firma, eine andere hat eine Stimme wie Schnatterinchen, was über den Tag und die Woche sehr anstrengend ist. Weitere Berater kommen hinzu und sollen unser Geschäft „beenden“; sie sind aber keine Admins, sondern eben Berater. Systematisches und konzentriertes Arbeiten ist so gut wie unmöglich geworden, weil der Teamchef sich gern selbst reden hört.

Ich muß hier raus. Dringend.

Das heutige Datum ist übrigens der Geburtstag vom Lieblingsopa. 95 wäre er heute geworden, wenn er nicht schon vor über 14 Jahren gegangen wäre. Das ist in jedem Jahr der Tag, an dem ich auf den Heidefriedhof gehe, um ihn zu besuchen.

Heute bin ich zum ersten Mal die große Runde gegangen, denn die Lieblingsoma liegt auch dort. Beide haben Blumen bekommen, ein paar Geschichten, Grüße vom jeweils anderen quer über den Friedhof getragen und was mir sonst noch so eingefallen ist.

Sie fehlen, daß es immer wieder weh tut.

Eine Woche später sieht das alles „ganz anders aus“. Ich habe am Freitag mit Bravour den Kundentermin gemeistert, ich war vorbereitet, auch ohne dieses dämliche Personalgespräch. Vergangenes Wochenende habe ich damit verbracht darüber nachzudenken, wie lange die Auskunft her ist, daß ich andere Kunden übernehmen soll. Eigentlich war der Sonntag damit im Eimer, ich kann mich nämlich immer noch in solchen Mist reinsteigern.

Am Montag als erstes die Protokolle studiert und siehe da – Anfang Oktober steht der Vermerk drin. Drei Arbeitstage später ging ich ins Krankenhaus und war vorher damit beschäftigt, meine laufenden Sachen sauber an die Kollegen zu übergeben. Ich habe um ein weiteres Gespräch mit dem Teamchef gebeten.

Es ist mehr als unfair, jemandem nach dreieinhalb Wochen krank zu sagen, er hätte seinen Job nicht gemacht. Ich bin nicht der Typ, der jede Absprache und Zusammenarbeit mit den Kollegen an die große Glocke hängt und sich so profiliert. Anscheinend will man das so, aber das ist Beratermentalität und die liegt mir nicht. Die wahrlich dümmliche Konsequenz aus dem Personalgespräch ist auch, daß ich mich jeden Morgen per Mail bei meinem Teamchef anmelden und zum Feierabend wieder abmelden muß („Bin da.“ „Ich gehe jetzt.“). Kindergarten, meine Fresse. Und die Personaltante saß im Gespräch in der vergangenen Woche nur drin, weil der große Chef das so wollte. Kein Rückgrat, dieser Vollhonk.

Anfang der Woche war ich damit beschäftigt, mit dem Kollegen Absprachen zu treffen und Wissen einzusammeln, dessen Kunden ich übernehme. Gleichzeitig bereite ich ein Projekt für Februar/ März nächsten Jahres vor. Am Mittwoch habe ich meine bisherigen Kunden an einen anderen Kollegen übergeben. Ich war, nach meiner Einschätzung, exzellent vorbereitet. Gestern abend habe ich mich von meinen bisherigen Kunden per E-Mail „verabschiedet“ und mich heute bei den neuen Kunden vorgestellt.

Gestern abend, nacht und heute morgen trudelten die Antworten der Kundenkontakte ein. Ich saß vor meinem Rechner und habe geheult. Alle Kunden haben sich bedankt, mir alles Gute gewünscht, einige sogar ein paar persönliche Worte geschrieben. Sowas macht man doch nicht, wenn das Gegenüber einen schlechten Job gemacht hat, oder? Und glücklicherweise standen meine Chefs schön in Kopie. Mein heutiger, kleiner Reichsparteitag.

Und nach dem Urlaub freue ich mich (wirklich!) auf meine neuen Kunden.

Danke, Anke.

(Die Gründe, gerade so und nicht anders aus dem Leben scheiden zu wollen, kann wohl nur annähernd der nachvollziehen, der wenigstens einmal an Depressionen gelitten hat oder leidet. Ich habe noch keinen jammern hören über die, die mit 180 ihre Karre gegen Pfeiler und Leitplanken pfeffern und fremder Menschen Ableben in Kauf nehmen. Für den Rest gilt einfach – Fresse halten.)

Jahreszeitenwechsel

Es herbstet, auch hier. Es riecht morgens feucht, nach Laub und Nebel, der über den Wäldern liegt. Die ersten Laubberge bilden sich an den Straßenrändern, ein wenig gelb ist in den Bäumen schon zu erahnen.

Der Sommerschlußverkauf in den Geschäften ist vorbei, Herbst-/ Winterfarben dominieren die Auslagen: braun, schwarz, ocker, beige, grün, grau. So wie die Jahreszeit sich ankündigt, müssen die Klamotten auf alles Triste abgestimmt werden. Das nervt. Ich hätte gern rot, orange, gelb und ein anderes Blau anstelle von petrol.

Es ist kein Wunder, daß man im Herbst beginnt, in Depressionen zu verfallen. Die Mode ist in diesem Jahr jedenfalls kein Lichtblick.

Dabei mag ich Herbst. Eintöpfe, Kerzen, Tee, Bücher lesen, den Blättern beim Rumfliegen zusehen. Machen wir das Beste draus.

Donnerstag

Trauerfeier und Urnenbeisetzung gestern für Großmutter 2 in diesem Jahr. Es soll der heißeste Tag des Jahres werden und wir müssen in Vollschwarz nach draußen. Super Idee. Mir ist nach kurzen Hosen, leichtem Oberteil und Sandalen, damit ich die rotlackierten Zehennägel an die Sonne lassen kann. Aber nach meinem Bedürfnis geht es heute nicht.

Mein Bruder und meine Mutter sammeln mich auf, nachdem sie das Grabgesteck abgeholt haben. Es gibt Mittagessen, danach wirft sich der Rest in schwarze Hülle. Es gibt ein paar Diskussionen mit meiner Mutter über vollschwarz oder gestreift, ich setze vollschwarz durch. Sie wäre die einzige aus unserer Runde gewesen, die sich heller kleidet, ausgerechnet zur Beisetzung ihrer eigenen Mutter.

In gräßlichster Mittagshitze treffen wir vor dem Friedhof ein. Wir treffen auf Leute, die wir nicht kennen und solche, die man nur zu solchen Anlässen trifft. In der Feierhalle ist es kühler, glücklicherweise, es reicht trotzdem, um sich nicht wohl zu fühlen. Man merkt auch die Spannung, die in der Familie herrscht, die Geschwister gehen sich aus dem Weg, der Streit ist nicht annähernd beigelegt.

Die Feier beginnt, die Rednerin verhaspelt sich schon bei den ersten Sätzen. Hägar schäkert mit der Rednerin, die sich aus dem Konzept bringen läßt, meine Tante vor mir schrickt zusammen. Der Text ist voller Heuchelei über Familie und Werte, ich frage mich, wer diesen Unsinn in deren Federn diktiert hat und ahne bereits die Antwort. Über 60 Jahre waren sie im letzten Jahr verheiratet, das ist ein Leben, aber war zuletzt geprägt von Starrsinn und getrennten Zimmern. Mein Cousin neben mir schnieft vor sich hin.

Die Urne wird nach draußen getragen, im Schatten der alten Bäume geht es zur Grabstätte, die sie vor über zwei Jahren bereits gekauft haben. „Ich will zu meinem Sohn“, war einer der Sätze von ihr, an den ich mich erinnere, wenn ich an ihr Sterben denken werde. Seit über zwei Jahren liegt seine Urne bereits an dieser Stelle. Die Enkel haben die Gestecke mitgenommen, um sie am Grab wieder abzulegen. Die Urne wird abgesenkt, man geht vorbei, wirft Blüten ins Grab. Anschließend bilden sich Grüppchen, die ersten, die nicht zum engeren Familienkreis gehören, gehen bereits wieder. Der Rest trifft sich zum Kaffee in einer nahegelegenen Gaststätte.

Die Geschwister setzen sich auf Distanz, meine Mutter und ihre Schwester mit Familien am oberen Ende, ihr Bruder mit seiner Freundin am unteren Ende der Tafel. Hägar wandert irgendwann zu meiner Tante und unterhält den oberen Teil. Das neueste ist „teuflisches Grinsen“, wer weiß mit wem er das geübt hat. Es bringt die Runde jedenfalls des öfteren zum Lachen. Eine Stunde, dann löst sich die Gruppe auf. Ich bin, glaube ich, die einzige, die meinen Onkel begrüßt hat und wieder verabschiedet hat, meine Mutter und meine Tante haben ihn ignoriert. Mein Großvater nimmt meinen Vater beiseite, sie setzen sich noch einmal ans Ende der Tafel. Ich sehe die beiden da hinten, bin fast auf dem Weg nach draußen, als mein Vater nach einer knappen Minute aufsteht und sehr zügig raus geht. Die Mimik und den Schritt, das hat er nur, wenn er wirklich wütend ist, was selten genug vorkommt. Der Rest der Aufbruchbereiten folgt.

Draußen steht mein Vater abseits, sieht mich, erzählt mir, was gesprochen wurde, ohne daß ich Fragen gestellt habe, schließlich weiß ich, worum es geht. Sie sollen „den Jungen endlich akzeptieren, dann wäre alles wie früher“. Die Antwort meines Vaters ist entsprechend ausgefallen, sie hat meinem Großvater nicht gefallen. Meine Mutter bekommt das Gespräch mit, mein Großvater kommt, er verabschiedet sich von ihr, sagt, er habe mit „ihrem Mann“ gesprochen. Meine Mutter versucht eine Erklärung, mein Großvater schaltet auf stur, blockt jedes weitere Wort. Gut, dann eben so.

Auf der Rückfahrt gibt mein Vater noch einmal wieder, was zwischen den beiden Männern gesprochen wurde. Er stellt die Frage in den Raum, warum sein Schwiegervater ausgerechnet mit ihm gesprochen hat und nicht mit seinen beiden Töchtern. Wahrscheinlich, weil die Ansage meines Vaters damals vor dem Krankenhaus, als er sich danach „persönlich beleidigt fühlte“, doch mehr als direkt war. Er hat meinen Onkel, Ende Vierzig, als „Rotzjunge“ dafür bezeichnet, daß er dem Krankenhaus untersagt hat, jemand anderem außer ihm Auskunft zu geben über den Gesundheitszustand der Großmutter. „Jemand anderen“ schloß meine Mutter und meine Tante mit ein, ich habe neben meiner Mutter gestanden und die Antwort der diensthabenden Schwester gehört, als sie versucht hat, etwas über den Zustand ihrer eigenen Mutter zu erfahren.

Wieder zurück bei meinen Eltern bekommen meine Zehen zuerst Frischluft; die Schuhe fliegen von den Füßen, Socken aus, barfuß über den gepflasterten Hof, über den ein warmer, aber angenehmer Wind weht. Hägar ist bereits beim Einkaufen eingepennt, er schläft noch immer, ihm ist warm. Mein Vater schleppt eine Plastewanne in den Garten, mit dem 10-Liter-Eimer wird Kinderbadewasser eingefüllt. Als ich umgezogen und erfrischt wiederkomme, planscht Hägar im Wasser, wirft mit Gummienten und hat sichtlich Spaß am Leute nassspritzen. Mein Bruder wirft den Grill an, mein Vater reagiert sich ab, indem er Unkraut aus dem steintrockenen Boden hackt. Wir diskutieren über Ex-Freunde, mein Vater sagt irgendwann nochmal, daß er nicht versteht, was in dem alten Mann, meinem Großvater, vorgeht. Ich verstehe es auch nicht, aber es ist mir zu mühselig geworden, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Er ist stur, altersstur, er wird seine Meinung nicht mehr ändern, er denkt, er hat alles richtig gemacht. Mit 85 sollte man jemanden in diesem Glauben lassen. Die Frage, warum er ausgerechnet mit meinem Vater gesprochen hat, kann nur mein Großvater beantworten und ich bezweifle, daß er darauf eine vernünftige Antwort geben kann oder will.

Hägar futtert mit Genuß die reifen Himbeeren direkt vom Strauch, die gelb-grünen Birnen schmecken allerliebst. Wie gut, daß die Großeltern so einen großen Garten haben, in dem immer was wächst und reift. Der kleine Kerl liebt die Streifzüge durch den Garten auf irgendjemandes Arm.

Irgendwann ist das Fleisch gar, das Radler ist willkommene Abwechslung bei dieser Hitze. Und später fliehen wir vor den bissigen Mücken, als es schon fast dunkel ist. Fast ein normaler Donnerstag eben.