Sonntags so

Kalt ist es draussen, minus 11 Grad. Blauer Himmel, Sonnenschein, eigentlich ideales Spazierwetter. Aber ich will zunächst nicht, ich Frostbeule. Die ringelmiez überzeugt mich dann aber doch. Es ist wirklich viel zu schade, so ein tolles Wetter zu vergeuden.

Vier Schichten Klamotte, Schal, Mütze, Fellhandschuhe. Die Kamera in die Tasche, die beiden Mobiltelefone, schliesslich habe ich Dienst. Ich laufe in Richtung Elberadweg in der Hoffnung, auf Scharen von Graugänsen zu treffen, die im Winter immer die Saat auf den Feldern hinter dem Deich abgrasen. Der Schnee knirscht unter den Schuhen, die Sonne blendet. Mist, ohne Sonnenbrille hätte ich nicht losgehen sollen. Aber wenn ich wieder umdrehe, gehe ich dann nicht mehr los. Es ist später Vormittag. Augen halb zu und durch.

Hach, Winterwunderland. Alles ist weiss gepudert, die Kälte zwickt an den Wangen. So muss das sein im Winter. An der ersten Biegung höre ich Geschnatter und suche. Drei Schwäne und zwei Graugänse ziehen vom See her direkt vor meiner Nase Richtung Elbe, unterhalten sich über das Pfeifen ihrer Schwingen hinweg. Fasziniert sehe ich ihnen hinterher, weiss, dass ich zu spät sein werde, wenn ich jetzt erst die Kamera aus der Tasche fummle. Sie fliegen tief über die verschneiten Felder, vor der Elbe drehen sie ab und kommen in weitem Bogen zurück. In meine Richtung. Jetzt aber Kamera hoch. Sie sind kaum zu erkennen vor all dem Weiss und Braun, aber ich erwische sie trotzdem. Die Fünf ziehen in Formation und mit Geschnatter zurück auf den See. Coole Aktion, Ihr Viecher. Ob sie sich wohl verstehen, die Gänse und die Schwäne? Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Weiter laufen, der Jogger, der mit mir gleichzeitig in den Weg eingebogen ist, rennt schon quer zum Damm und ich bin meilenweit hinter ihm. Gucken, lauschen, die Mütze muss ich immer wieder mal über die Ohren ziehen, die Kälte zwickt.

Zwischen den Feldern geht ein Wirtschaftsweg rechts ab, der zu ein paar Viehhöfen führt. Hier pfeift der Wind ein wenig schärfer, die Kälte treibt Tränen in die Augen. Tierspuren überall, rechts auf dem Feld eine verlassene Hasenkuhle. Die armen Viecher, geht mir durch den Kopf, die haben keinen Ofen, den sie anheizen können oder eine Heizung, die sie bei Bedarf aufdrehen. Moderne Zivilisation, manchmal bist du ja doch zu etwas gut. Ob sie wohl Möhren fressen würden, wenn man sie am Feldrand ablegt? Gedanken, die ich mir in den Kopf rufe, um nicht an Arbeit und anderen Mist denken zu müssen. Immer wieder schaue ich nach den Hunderten Gänsen, aber sie scheinen heute einen anderen Platz zu haben, auf dem sie rasten. Ich höre sie rufen, wenn ich stehenbleibe, aber sehen kann ich sie nicht. Die Kälte trägt Geräusche unglaublich weit.

Was ich für das Rufen rodelnder Kinder halte, entpuppt sich bei einem Rundumblick als die Fünferphalanx vom Anfang meines Weges. Laut schnatternd ziehen sie über mich hinweg, eine der Gänse entfernt sich und fliegt einen entgegengesetzten Bogen. Ihre Gefährten rufen ihr nach, eine zweite löst sich aus der Formation. Am Fluss sind sie alle wieder beisammen.

Keine Gänse am gewohnten Platz. Ich konzentriere mich auf das Knirschen des Schnees unter meinen Schuhen und setze die Füsse bewusst; einen vor den anderen, langes Abrollen. Es klingt, als würde man eine Kugel durch den Schnee rollen. Naja, stimmt auch irgendwie. Ob man das Glitzern des Schnees in der Wintersonne fotografieren kann? Mal probieren… Den nächsten Weg links ab nehme ich und werde auf dem Deich noch einmal nach den Graugänsen Aussschau halten. Ich sehe sie in Vierer-, Siebenergruppen genau über den Fluss fliegen, ich höre ihre Rufe. Auf dem Deich dann – nichts. Am anderen Ufer paddeln alle Dresdner Enten im seichten Wasser, vier Gänse im Wasser. Ist das alles?, denke ich und wundere mich über das laute Spektakel – hinter dem gegenüberliegenden Deich. Da sitzen sie also an diesem Sonntag und feiern vierten Advent. Na gut. Heute also keine weiteren Gänsefotos. Vorsichtig schliddere ich vom Deich, habe einen Heidenspass mit mir selbst gerade. Die Kamera kommt jetzt wieder in die Tasche, jetzt gehts auf den Rückweg.

Wieso ist da jetzt nur ein Handy drin? Verdammter Mist, ausgerechnet das Bereitschaftstelefon. Hoffentlich hat keiner angerufen… Ich drehe die Tasche um, aber ich weiss sowieso schon, dass da nix weiter rausfallen wird. Hab ich das Ding überhaupt eingepackt? Jackentasche? Nee, da kommen nur Objektivdeckel und die Schlüssel zum Vorschein. Shice!! Ich laufe los. Zuerst will ich die Runde zuende laufen, aber dann drehe ich um und laufe den Weg zurück, den ich gekommen bin. Ich habe eine Ahnung, wo das Telefon liegen könnte, wenn ich es denn eingepackt habe. In der Tasche meckert mein Privathandy, der Akku ist fast leer. Auch toll! Auf einmal ist der ganze Jobscheiss wieder da. Was sage ich denen morgen, wenn ich das Handy nicht wiederfinde? Die haben mich eh schon auf dem Kieker. Ich könnte die Kollegen anrufen und bitten, auf der Nummer anzurufen und zu schauen, ob jemand das Ding gefunden hat. Erstmal abwarten. Bevor ich jemanden verrückt mache, versuche ich es lieber selbst zu klären. Wenn das irgendein Idiot gefunden hat und erstmal alle seine Kumpels anruft? Muss ich Finderlohn zahlen? UNd wenn der Finder es nicht rausrückt, weil ich nix zahlen will? Tausend Horrorszenarien wirbeln durch mein Hirn. Erst einmal muss ich an die Stelle zurück, an der ich das Handy wahrscheinlich verloren habe. Ich laufe so schnell, dass mir die Kälte gerade völlig egal ist, das Ziehen in meinen untrainierten Waden aber auch.

Endlich. Ich puhle mein Telefon aus der Tasche und wähle die Nummer, die ich auf den letzten Metern im Kopf zusammengesetzt habe. Hoffentlich die richtige Nummer. Es ruft, aber kein Klingeln in der Nähe zu hören. Sofort zweimaliges Piepen, dann ist mein Handy aus, der Akku endgültig leer. Verfluchter Mist!! Ich suche die Gegend ab und finde am Wegrand Spuren, als hätte jemand etwas aufgehoben. Also war meine Vermutung richtig, aber noch nicht bestätigt. Noch kann dieses vermaledeite Telefon einfach nur bei mir zu Hause liegen. Fluchend laufe ich in Richtung Wohnung. Hoffentlich sind die Finder nicht aus irgendeiner Ecke von Dresden, wer weiss, wo ich hin muss, um das blöde Ding wieder auszulösen.

Zu Hause – nichts. Das war doch irgendwie auch klar, oder? Mein Handy versorge ich zunächst mit Strom. Dann wähle ich die Nummer des verlorenen Telefons – es klingelt. Nach dem dritten Klingeln – eine Frauenstimme. Ich melde mich, sage ihr, dass das mein Telefon ist, an das sie gerade rangegangen ist. Sie wohnt nur zwei Strassen weiter, welch ein Glück. Ob ich noch einen Schlüssel verloren hätte, fragt sie. Nee, wenn sie den nicht an derselben Stelle gefunden hat wie das Telefon. Nein, meint sie, viel weiter unten an einem der Viehhöfe. Dann ist es auch nicht meiner, ich stehe ja in meiner Wohnung und telefoniere mit ihr.

Erleichtert mache ich mich auf den Weg, dieses dusselige Ding auszulösen. Sie hat mir die Hausnummer gesagt und ihren Nachnamen fast buchstabiert. Es ist einer der Plattenbaublöcke gleich um die Ecke, ich werds schon finden, auch wenn ich auf dem Weg versuche, die Buchstaben ihres Nachnamens krampfhaft wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Kein Erfolg. Es ist kein Allerweltsname und so viele Leute werden in dem Eingang nicht wohnen.

Vor der Haustür steht ein älterer Mann und zündet sich gerade eine Zigarette an. Ich grüsse freundlich und gehe fast vorbei, die Klingeln schon mit den Augen festgetackert. Ob ich wegen dem (!) Handy käme, fragt er und als ich bejahe, zieht er das Telefon lässig aus seiner Jackentasche. Nicht benutzt, fügt er wichtig hinzu. Ich bedanke mich überschwänglich, wünsche ihm und seiner Frau einen schönen vierten Advent und frohe Feiertage.

Als ich um die Ecke bin, schaue ich doch auf die Anrufliste. Nur mein erster Anrufversuch ist drauf und den lösche ich. Und eigentlich ist es mir völlig egal, ob sie mit dem Ding telefoniert haben oder nicht.

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