Meine Mutter hat, wie manch anderer wohl auch, den Hang zum „perfekt beschissenen“ Timing. Am Montag, als ich gerade anderthalb Stunden im Büro saß und mich auf das anstehende Training vorbereitet habe, rief sie an, um erst Belanglosigkeiten auszutauschen und dann quasi im Nebensatz zu erwähnen, daß die Großmutter im Krankenhaus liegt. Da ich noch über beide alte Damen verfüge, mußte ich nachfragen, um welche es sich handelt und hatte eigentlich die ewig jammernde Fraktion im Verdacht. Leider hat es die Lieblingsoma getroffen.

Am Montag war es genau drei Jahre her, daß sie nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus kam, anschließend drei Monate Reha und seitdem häusliche Pflege durch meine Eltern. An ihrem Zustand (halbseitige Lähmung, Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, gestörtes Sprachzentrum) hat sich seitdem nichts geändert.

Meine Mutter erzählt mir, daß es in der vergangenen Woche mit Schmerzen und Schreien angefangen hat, da sie sich nicht artikulieren kann, war es für meine Eltern schwer, ihr zu helfen. Sie vermuteten, daß sie einen weiteren Schlaganfall erlitten hatte und riefen den Hausarzt zur dringenden Konsultation an. Den ersten Anruf ignorierte der Idiot, bequemte sich am Nachmittag des Folgetages aber auf Drängen und Androhung von Konsequenzen doch von seinem Berg herunter. Er verschrieb Heparin-Spritzen und Beruhigungsmittel, damit das Schreien aufhört, und zog seiner Wege. Das Wimmern und Schreien der Lieblingsoma ließ nicht nach, für meine Eltern müssen die vier Tage im Haus mit einer schreienden alten Frau fast unerträglich gewesen sein. Der Pflegedienst, der sich wirklich rührend um die alte Dame kümmert, bemerkte zuerst die Verfärbung am bisher nicht gelähmten Fuß, die sich im Laufe des Wochenendes weiter ausbreitete. Am Sonntag schließlich empfahl die Chefin des Pflegedienstes, dringend einen Notarzt zu rufen, da sie die Ausbreitung der Verfärbung nicht stoppen könnten.

Der Bereitschaftsarzt untersuchte die Lieblingsoma, stellte fest, daß die Blutzufuhr im Bein behindert ist und wies sie sofort in ein Krankenhaus ein. Kommentar des Bereitschaftshabenden zur Verordnung des Hausarztes: Es hätte schon am Tag der ersten Konsultation etwas anderes passieren müssen.

Meine Eltern haben den behandelnden Arzt im Krankenhaus aufgesucht und sich die Ursache und die Folgen detailliert erklären lassen. So wie es aussieht, versucht man gerade medikamentös die Blutzufuhr zum Bein wieder anzukurbeln. Irgendwo zwischen Herz und der Kreuzung der Arterien zu den beiden Beinen sitzt eine Arterienverkalkung, die den Blutfluß behindert und damit auch die Verfärbung auslöst. Die Lieblingsoma muß furchtbare Schmerzen gehabt haben. Der behandelnde Arzt nennt Amputation als letztes Mittel, wenn man die Zirkulation nicht wieder in Gang bringt. Es zu unterlassen würde bedeuten, daß sie irgendwann an einer Sepsis stirbt.

Seit drei Jahren liegt die Lieblingsoma Tag um Tag in ihrem Pflegebett und schaut zum Fenster heraus oder auf die Fotos ihres verstorbenen Mannes und ihres Urenkels, den sie Weihnachten noch kennenlernen konnte. Hägar der Schreckliche und sie verstehen sich in der ihnen eigenen Sprache ganz wunderbar. Es hat lange gedauert, bis ich mich damit anfreunden konnte, sie so liegen sehen zu können und mit ihr umzugehen, als wäre sie immer noch da, ohne gleich in Tränen auszubrechen.

Hilfreich war für mich immer der Gedanke, daß der Mensch, als den ich die Lieblingsoma kannte, die Hülle eigentlich schon lange verlassen hatte nach ihrem Schlaganfall, denn sie war nicht mehr dieselbe seither. Ich kann nur für sie bitten, daß sie jetzt nicht leiden muß. Und alles andere ist gerade mal sowas von unwichtig.

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