Familienbande

Wie verzweifelt ist tiefste Verzweiflung? Scheitern, stolpern, fallen, kein Ausgang irgendwo?

Der jahrzehntelang ausgeübte Job ist mit einem Mal weg, kleine Gelegenheitsarbeiten und Aufträge von Verwandten halten Dich über Wasser. Dann das Experiment Ich-AG, das gut anlief, aber an vielen Kleinigkeiten, die sich irgendwann riesengroß auftürmten, letztlich scheiterte. Deine Frau, mit der Du fast 30 Jahre verheiratet bist, findet endlich, nach Jahren erfolglosen Suchens, einen gutbezahlten Job, knapp 700 km weit entfernt. Sie verdient gut, es gefällt ihr dort, und ihr seht Euch immer seltener. Du trinkst und ertrinkst in Selbstmitleid. Du trinkst weiter, fühlst Dich wahrscheinlich immer nutzloser, weil nicht Du der Ernährer bist, sondern Deine Frau. Du beleidigst im Rausch, stösst Deine Familie, Freunde, die Eltern immer wieder davon und vor den Kopf. Am Ende trennt sich Deine Frau von Dir, reicht die Scheidung ein, ein neuer Mann existiert bereits in ihrem Leben. Sie wird nie mehr zurückkommen.

Deine Verzweiflung ertränkst Du in immer mehr Alkohol, Du verfällst zusehends und rufst um Hilfe, indem Du Dir die Pulsadern aufschneidest. Bei jedem Versuch sind die Sanitäter und Ärzte geschickter und schneller als Du und bringen Dich zurück. Du kränkst wieder und wieder Deine Eltern, alle Hilfsangebote Deines Sohnes, Deiner Geschwister und Schwager lehnst Du ab. Beim Warten auf einen vorbeifahrenden Zug verlässt Dich das letzte Quäntchen Mut für den finalen Sprung im allerletzten Moment. Du versuchst den stationären Entzug, verlässt die Klinik aber mehrfach nach wenigen Tagen.

Als die Ärzte Dir nach einem Deiner letzten gescheiterten Versuche aus gesundheitlichen Gründen dringend zum Entzug raten, willigst Du ein und begibst Dich auch in psychologische Behandlung. 10 Tage Entgiftung, danach drei Monate Entzugsklinik, endlich ein Lichtblick und die Chance, wieder aufstehen zu können. Die 10 Tage schaffst Du, Deinem Vater am Telefon vermittelst Du Optimismus, du freust dich auf den Entzug, bist zuversichtlich, es diesmal ganz sicher schaffen zu können.

Mein Onkel hat in der vergangenen Nacht sein Leben beendet. Ich habe keine Ahnung, welcher letzte Gedankenfetzen ihm dafür gefehlt hat. Ich weiss, daß jemand, der es immer wieder versucht, letztlich irgendwann Erfolg haben wird (so trivial das klingen mag).

Und alles, was ich seit Stunden denken kann, ist: „War das wirklich die letzte Konsequenz? War das nötig, Du blöder Idiot?“ Jede erdenkliche Form von Hilfe war da, Du hättest nur zugreifen müssen. Zwingen konnte Dich dazu keiner.

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